Gedankengänge

Dritter Teil
eines unbestimmten Ganzen

Generalprobe einer fiktiven Endzeit

Gegenwärtiges

Die Tür zur Terrasse steht offen und der lange Vorhang wiegt zart wallend im Hauch, welcher ins Zimmer weht und Zwitschern der Vögel, ferne Rufe und Geräusche der Arbeit hereinträgt. Auf alles wirft die Sonne ihre Strahlen sommerlichen Vorspiels an diesem Nachmittage im März. Wendet man sich dem Unmittelbaren zu, drängt sich dem Beurlaubten Ferienstimmung auf und friedlichste Idylle lässt das Herz von Erinnerungen der Jugend und Sehnsucht überlaufen. Fern und unwirklich schleicht die unsichtbare Bestie durch das Land.

Vergangenes

Statt um Vorratssicherung und Ausgangssperre zu kreisen, schweifen die Gedanken zu vergangenen Tagen und dem Glück, welches sie bereithielten. Der Espresso, den man auf einem wackligen Aluminiumstuhl eines Eckcafés in einer kleinen portugiesischen Hafenstadt trank / die nahende Rückkehr, welche einen wie die Arme der Liebsten zu sich zog, während man alleine am anderen Ende der Welt in einem schmuddeligen Restaurant mit gefliesten Wänden gedankenverloren sein Abendessen zu sich nahm und absolut nichts zu tun hatte / das Warten am Bahnhof einer Großstadt, die man kaum kennt, aber plötzlich eine vertraute, jedoch unverständliche Sprache hörte / das Sitzen im Garten der Eltern eines Freundes am Ende des ersten warmen Tages, während schon die Schatten aus den Büschen traten und die Hände ganz kalt wurden, aber das Herz so ungemein friedlich in der Brust lag. Und noch weiter zurück zu den immer gleichen Nachmittagen im Dorf der Kindheit zwischen Bolzplatz und Kinderzimmer und den Verheißungen des Jahres, welche zum Frühlingsanfang lockten wie geheime Türen in zauberhafte Länder. So viel Erlebtes zieht herauf, bringt Gaben dar und vollzieht sein Spiel.

Zukünftiges

Der nach innen gerichtete Blick kehrt zurück, folgt dem Gang einer Katze, die sich ihren Weg an der Rabatte entlang bahnt, wo erste Rosen knospen. Die Geräusche der Nachbarhäuser und der nahen Straßen werden leiser, das Licht ist im Begriff abzunehmen und es wird eine Spur kühler. Nur die Amseln und Meisen singen unvermindert den Frühling herbei und die umgebende Ruhe wirkt wie Drohung.

Vielleicht, so denkt man bei sich, ist dies ja doch das Ende. Und in einem Jahr reitet man im Tross mit Pferden durch die Wiesen und Wälder, macht über den Fluss Abstecher in die naheliegende Kleinstadt, wo zwischen ausgebrannten Hausruinen Versprengte beim Geklapper der Hufe halb ängstlich halb neugierig zwischen den Fensterläden auf die Straße schauen, trinkt Wein aus der Winzerei im Kloster zwischen den Hügeln und backt Brot im Lehmofen. Es wäre ein herrliches, wildes Leben. Das Journal erschiene dann als Flugblatt im Holzschnitt. Der laute Knall und derbe Rückstoß des Gewehres an der Schulter wäre vertraut wie ehemals das Öffnen und Einsteigen in das Automobil. Wir Korona junger Männer würden auf dem Laub am Lagerfeuer sitzen und Branntwein trinken, der von Hand zu Hand wanderte, welche dann Schwielen vom Holzhacken hätten; Hände, die alles fester und bestimmter fassten und hielten, weil alle Griffe neuen Sinn erführen. Die Gesichter aber zeigten die eigentliche Veränderung: die gleichen Formen, aber das Holz aus dem sie geschnitzt sind, wäre ein anderes, und der Blick der Augen wäre älter und lebendiger. Dann und wann kehrte man im kleinen Trupp beim dunklen Ritter ein, der uns im Fechten unterwiese und ein alter Steinmetz lehrte uns mit Holz und Stein bauen. Abends würden die Bänke im Hof zusammengestellt und bei Gitarre und Geige würde gesungen und getanzt werden, und getrunken wie bei den Zigeunern.

Noch einmal Gegenwärtiges

Das Smartphone macht einen hohen Ton, der an die Klangschale eines Yogakurses erinnert und zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Lächerlich solche Dystopiefantasien zu hegen und die „Wilder Osten“-Romantik entweicht mit einem Schnauben durch die Nase. Ein Fingerwisch und man hört die Sprachnachricht eines Freundes, der von einer ägäischen Insel aus die Sorge mitteilt, nicht zu wissen, ob er wegen der Pandemie im Hotel bleiben kann oder nach Hause geflogen wird. Im Anschluss hat er noch ein Video gesendet, bei dem ein Vater seine schlafende Tochter über die Fliesen eines Flughafenfoyers hinter sich herzieht, welches wohl viral ging. Eine zweifache Analogie, die er allem Anschein nach geistreich und witzig fand. In einem merkwürdigen Prozess innerer Distanzierung richten sich Haltung und Blick auf und man schaut und lauscht und lässt los. Wo ein Hausarrest zumindest nahegelegt wird und der Mindestabstand von einer Armlänge auf gute zwei Meter wächst, erscheint das alte Fischerhaus bei Hammerfest, die Waldhütte hinter Rovaniemi oder zumindest die Datscha in der Dübener Heide als feste Burg und Wehr. Nein, frei sein, in Wort und Tat, das müsste man, dann bräuchte man auch nicht zu fliehen, Virusepidemie hin oder her.

Christian Bode, 20. März 2020