Gedankengänge

Erster Teil
eines unbestimmten Ganzen

Fenster zum Himmel

Die noch blattlosen Lindenzweige peitschen von den Lenzwinden hin und her, während im Himmel über ihnen große Wolkenmassen dahinziehen, ihrer Farbe nach von schmutzigem Schnee, der an diesem Ort des Landes in diesem Winter ausblieb.

Ich glaube, es ist der erste Winter in meinem Leben gänzlich ohne Schnee. Nur an einem Novemberabend, ich war dabei eine Kommilitonin zu besuchen, die westwärts wohnte und ich so an den Kanälen entlangging, in denen die weißen und gelben Lichter ihre schwingenden Punkte und kräuselnden Streifen warfen, fielen aus des Himmels behütender Ofenschwärze helle Flocken in gestrecktem Taumelflug hernieder. Kurz läuft das Kind, was man einmal war, wie ein Gast den Bürgersteig mit entlang; an ihrer Haustüre hatte sich das Präludium eines Winters bereits in leichten Regen aufgelöst. Es sollte dies beim Versuch eines Winters bleiben.

Von dem Fenster aus, wo ich auf die beschriebenen Zweige und Wolken schaue, ist sonst nur am unteren Rand ein dichtes Konstrukt unterschiedlicher Winkel von Dächern bürgerlicher Gründerzeithäuser und einem alten Industriekomplex aus Ziegelstein zu sehen; alles in einiger Entfernung, alles in unterschiedlichem Rot. Englisch- und Scharlachrot, Zinnober, Krapplack, Siena gebrannt. Dann und wann steigt oder sinkt ein Vogel, sonst ist dort alles ruhig, immer ‒ wobei das beigelegte Wort ruhig wohl fehlgeht, denn es ist ja keine Waldesruh‘ wie bei Goethe, eher eine wenig erquickliche Langeweile. Die Wolken aber sehen sehr bedrohlich aus und erinnern an die Filmszenen, bei denen die Kamera unter Wasser gen Firmament filmt und die brechenden Wellen ein wallendes Geflecht aus schnell wachsenden und schrumpfenden Pilzschwämmen bilden, zwischen denen es hell aufleuchtet. Dieses Formprinzip kennt man sonst auch aus den Reportagen, wo einem brennende Ölbohrtürmen oder Autos gezeigt werden. Auf jeden Fall gibt es eine, von unten betrachtet, faszinierende Ähnlichkeit von Wolkendecke und, sagen wir, Wassergrenze. Das Bedrohliche der Wolken muss wohl daher stammen. Zumindest verwundert es bei längerer Betrachtung, dass sie sich halten und nicht schwer herabstürzen und die Menschen in einer Wolkenlawine ersticken. Vielleicht ist die bisweilen anklingende Furcht vor dem Himmel eine sehr persönliche, vielleicht aber auch eine urgründige Wahrnehmung, die ihre Wahrheit unverändert besitzt, wie auch die im Grunde flache Erde oder der Horizont seine Wahrheit behält, da kein Mensch innerlich ganz überzeugt ist, auf einer planetarischen Kugel zu stehen, vielleicht gar auf der unteren Seite, die mit der dreißigfachen Geschwindigkeit eines .223 Remington-Sturmgewehr-Projektils durch fast leere Dunkelheit schießt. Sein Wesen verbietet es ihm. Hier dringt die Physik in Bereiche vor, welche sich der direkten Phänomenologie entziehen; das Leben wird abstrakter, fragwürdiger.

Aber zurück zu dem Blick aus dem Fenster, zu den Zweigen, den Dächern, den Wolken ‒ dem Himmel! Denn die Tristesse der Umgebung lässt, wie es oft bei kargen Landschaften wie Heide oder Steppe der Fall ist, die Schwere des Himmels ganz hervortreten und jedes Schauspiel verändert den Ort, welcher mehr und mehr Spiegel der himmlischen Mächte wird. In einem Moment noch schlieriges Grau bei dem alle Farben müde zusammenrücken, reißt eine Wolkenscholle auf und aus strahlendem Eisblau schneidet helles Licht durch die Ahnung eines verfrühten Abends. Die Farben leuchten auf. Das Herz weitet sich. Der Wind weht beständig und weitere Tore öffnen sich, bis es plötzlich ganz grell wird und alles nur Licht und Halbschatten zu sein scheint, als wäre das Jahr noch zu jung und die Erde, noch nicht bereit, müsste die Augen blinzelnd zusammenziehen. So wechseln sich die Wolkengebilde und Szenen wie Werke von Turner und Dahl ab, lassen Titanweiß, Ultramarin und ein Cyan, bis ins Türkis hineinreichend, zusammenspielen, das Weiche und Ungreifbare aber wohnt im hellen Grau, wo Ocker und Umbra kaum zu sehen, aber immer zu spüren sind, als hätte das Luft gewordene Wasser die Freundschaft mit den Erden und Steinen, aus denen es dampfend entwich, noch in Erinnerung, wo es doch auch bald wieder dahin zurückkehrt, um erneut seine Fahrt zu machen.

Christian Bode, 7. März 2019
zuletzt redigiert am 27.08.2019