Gedankengänge

Zweiter Teil
eines unbestimmten Ganzen

Abendstimmung

In der Ferne schlagen Glocken die volle Stunde. Was klingt da mit, in diesem Ton?, zu dieser Zeit? Das ganz Ferne tritt dann ganz nah heran und ein Hauch bar aller Zeit durchweht einem das Herz, wie Sommerabendluft durch Schilfrohr streicht. Das Flüstern trockenen Grases an einem See, das Säuseln eines Baches im stillen Wald, Sonnenlicht, welches als spielende Flecken durch die Blätter eines Baumes fällt; die gleiche Stimmung. Einmal kurz den schweren Tornister absetzen, ihn sich abnehmen lassen. Ausatmen, Stille, einatmen. Das Weitergehen fällt nun leichter und auch wenn die Sonne sinkt ‒ steigendes Gemüt.

Es scheint, in der sanften Wiederholung von Bewegung und Klang spürt der Mensch sich vom Kosmos getragen; das Pulsieren des Blutes in seinen Adern, sein Atmen, kleine traumwandlerische Bewegungen, sie alle fügen sich ein in den Lauf der Dinge, sind Ornament des Seins.

Bei diesen Gedanken hebt sich der Blick, lässt Pflastersteine und ihre Fugen voll bellis perennis, Hecken und Zäune der Gärten, dann auch Gassen und Fenster der Häuserfassaden zurück, richtet sich auf in die Himmel; wer sagte, dass dort keine Grenzen, kein Zwischensein wäre? Dieses fällt zwischen Tag und Nacht als Dämmerlicht auf die Wege und Plätze, öffnet in den Schatten von Büschen und Häuserwänden Tore in die man nicht eintreten kann, aus denen abendlicher Vogelsang, aber auch Fragwürdiges herausströmt ‒ die Dinge öffnen sich und die Welt gewährt einen Blick hinter ihre Bühne aus Plänen und Mechanik. Verhalten bleibt man stehen, alleine, zwischen alledem und denkt an eine liebe Gestalt oder einen mit Erinnerungen durchwirkten Ort. Müsste man sich hier, in diesem Moment, in dieser von wilden Blumen lustvoll eingenommenen Brachfläche niederlegen, zu der die Schritte ganz zufällig führten, und sein Leben aushauchen, zufrieden würde man es tun. Denn es ist ja alles Gute so reich vorhanden.

Christian Bode, 27. August 2019